Die Meldungen zu Missbrauch, Gewalt, Angstkultur und sexuellen Übergriffen im Schweizer Sport reissen nicht ab. Der jüngst in den Medien publik gemachte Fall im Männer-Kunstturnen – unter anderem berichtete das SRF-Magazin «10vor10» – belegt nur eines von offensichtlich vielen Schicksalen, welche sich gehäuft in kompositorischen Sportarten zutragen. Wie hoch muss der Preis eigentlich sein, bis Leistungssport, der solches Leid offensichtlich zulässt, nicht mehr gefördert wird?
Von Hanspeter Gubelmann, mind2win
Vor ziemlich genau drei Jahren erschütterten die „Magglingen Protokolle“ die Schweizer Sportwelt. Was viele gewusst, geahnt oder einfach verdrängt hatten, drang schockartig ins Bewusstsein der Schweizer Gesellschaft. Es folgten umfangreiche wissenschaftliche Studien und vielbeachtete Berichte in den Medien. Das hieraus gewonnene Verständnis im „neuen“ Umgang mit Nachwuchs-Leistungssport gipfelte im Statement von Sportministerin Viola Amherd: «Wir wollen und fördern Leistungssport – aber nicht um jeden Preis!» Was ist seither geschehen? Ist der Nachwuchs-Leistungssport seither gesünder, ethisch vertretbarer oder kindgerechter? Ich bezweifle das.
Erfolge auch ohne Härte und Drill
Der aktuell weltbeste Skifahrer Marco Odermatt hat einmal gesagt, dass er als Bub nicht der Beste sein wollte. Er hatte offensichtlich grossen Spass am Skifahren und strebte danach, sich zu einem sehr guten Skifahrer zu entwickeln. Um einen jungen Menschen mit seinen Talenten optimal zu fördern, braucht er weder die erwachsene Sichtweise einer (zu frühen) Erfolgsoptimierung, noch die Vorstellung eines „zu schleifenden Rohdiamanten.“ Stattdessen haben die jungen Odermatts, Federers, Holdeners – eben alle sportbegeisterten Jugendlichen von heute das Anrecht einer kind- und jugendgerechten Unterstützung und Förderung. Statt Härte und Drill – ein Klima des Empowerments, das wahrhaftige Unterstützen junger Menschen in ihrer Entwicklung, welches seinen Anfang immer im Elternhaus nimmt.
Wie ethische Verstösse verhindern?
Es geht zunächst um ein gemeinsames Verständnis dessen, was gutes – eben ethisch vertretbares – Handeln im Sport beinhaltet. Diesbezüglich bin ich froh um das klare Statement unserer Sportministerin. Ich interpretiere ihre Aussage dahingehend, dass die Förderung dort aufhört – aufhören muss! – wo die Integrität, die Sicherheit, die Gesundheit und/oder die kindgerechte Entwicklung der jungen Menschen gefährdet sind.
Aus psychologischer Perspektive müsste dies zu einem eindeutigen und bindenden Statement aller Beteiligten im Nachwuchssport führen: Der junge Mensch mit seinen Anliegen und seine gesunde Entwicklung stehen im Mittelpunkt – die sportliche Leistung ist zweitrangig! Im Weiteren geht es um ein klares Verständnis dessen, was junge Menschen brauchen, um sich gut entwickeln zu können. Der entscheidende Treiber ist das Selbstvertrauen der jungen Sportlerin. Dieses entsteht aus einer wachsenden Autonomie, aus Kompetenzerleben und sozialem Miteinander. Dagegen bewirken übermässiger Druck, Härte und Drill genau das Gegenteil. Es entsteht Angst. Das Kind entwickelt Versagensängste, es zieht sich in eine innere Welt zurück und vielleicht das Schlimmste: es verliert den Mut, den Glauben an sich und in seine Fertigkeiten. Sport unter diesen Vorzeichen ist ethisch nicht vertretbar, darf also nicht gefördert werden.
Kulturwandel im Sport – wie konkret?
Die Sensibilität hinsichtlich der Thematik „umsichtig fördern anstatt überfordern“ ist im Schweizer Sport angekommen. Dies belegen ganz viele Aktivitäten in zahlreichen Sportarten. Die Curricula der Trainer- und Leiter:innen-Ausbildungen werden angepasst, es entstehen auch inhaltliche Leitfäden, die Eltern, Trainer Funktionäre und Sportpsychologinnen in ihrem Tun unterstützen. Das jüngst publik gewordende Beispiel gravierender Missstände im Bereich Artistic Swimming des Schweizerischen Schwimmverbands (Swiss Swimming) zeigt aber auch, dass die Hauptverantwortung bei den Verbänden und Organisationen liegt. Da braucht es in Zukunft an einigen Stellen noch mehr Leadership, bessere Strukturen und eine lernfähige Organisation, die einen Kulturwandel überhaupt ermöglichen. Zuoberst sind es aber die Erwachsenen, die Präsidenten und Verantwortlichen. Da erwarte ich deutlich mehr Klarheit, Veränderungswillen und Zivilcourage.
Alterslimit im Kunstturnen?
Wenn ich mir die „Charta der Rechte von Kinder und Jugendlichen im Sport“ als Orientierungsmassstab nehme, müsste ich die Verantwortlichen im Kunsturnen fragen: Warum müssen die Athletinnen schon dermassen früh in ihrem Leben diese ausserordentlich schwierigen Übungen turnen, ihren Leistungszenit meist schon im Alter von 20 erreichen, was oft zu einem frühen Karriereende führt? Ist dies aus ethischer Sicht statthaft – und zwar aus Sicht des jungen Menschen und seiner gesunden Entwicklung.
Die Antwort ist für mich eindeutig: die Leistungsmaximerung im Kunstturnen den Frauen erfolgt viel zu früh, das Risiko von Entwicklungsschäden ist viel zu hoch. Folgerichtig wäre u.a. ein Alterslimit für Teilnahmen an internationalen Elite-Meisterschaften von mindestens 18 Jahren.
Die Rolle der Eltern und Trainer
Die Rolle der Eltern gerade am Anfang einer Sportkarriere ist immer dreifaltig: Sie dienen als Vorbild, sie sind die grossen Unterstützer und meist auch Bewerter, indem sie die Leistungen ihrer Kinder interpretieren. Ich erlebe viele Sporteltern als sehr interessiert und aktiv. Sie wollen informiert sein und haben auch Anrecht darauf. Auf der anderen Seite stehen die Trainer:innen, die mit ihrem Alltagsgeschäft häufig am Rand ihrer Belastbarkeit stehen und auf ein einvernehmliches Miteinander mit den Eltern hoffen.
Grundsätzlich möchte ich für eine stärkere Integration der Eltern in den Sport ihrer Kinder plädieren. Wie das gehen könnte, zeigt u.a. das Sportland Norwegen. Die Sportpsychologie sollte hier als vermittelnde Instanz mitwirken, indem sie beispielsweise psychoedukative Angebote im Austausch von Eltern und Trainer:innen organisiert und moderiert. Eine spannende Frage könnte lauten: wo braucht es die Eltern, wo braucht es sie eher nicht! Ein offener Austausch hinsichtlich eines partnerschaftlichen Rollenverständnisses dürfte auf beiden Seiten hilfreich sein, um gegenseitiges Vertrauen und Verständnis füreinander zu vertiefen.