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Leistungssportlerinnen sind auch nur Menschen

Marlen Reusser

Fast zwei Wochen stand der Radsport im Mittelpunkt – an den UCI-Weltmeisterschaften im schottischen Glasgow waren Schweizerinnen und Schweizer mit zurecht hohen Erwartungen am Start. Eine von ihnen; Marlen Reusser. Nach Gold im Mixed Team Zeitfahren sollte in ihrer Paradediszplin Zeitfahrern eine zweite Medaille bereitliegen. Doch dann geschah Unerwartetes, das danach sehr kontrovers diskutiert wurde. Ohne ein sichtbares Problem zu haben, stieg sie nach 16 Kilometern vom Rad (Bild: SRFsportlive). Sie hätte in diesem Moment einfach kein Bock mehr gehabt, sagte sie einige Stunden später in einem ausführlichen SRF-Interview. Reusser liess dabei tief blicken. Sie sei auch nur ein Mensch, der nicht immer könne. Die permanente Belastung von Körper und Geist, das pausenlose Abrufen von Leistung sei diesmal nicht mehr möglich gewesen. Es geht um mentale Gesundheit und den Umgang einer Leistungssportlerin damit in der Öffentlichkeit.

Cristina Baldasarre, Sportpsychologin unseres sportlifeone-Partners mind2win, ordnete die ungewöhnlichen Geschehnisse am Tag nach Reussers Aufgabe in einem ausführlichen Interview mit dem Magazin WATSON ein.

 

Frau Baldasarre, im WM-Einzelzeitfahren stieg Marlen Reusser mitten auf der Strecke vom Rad und beendete das Rennen. Was passiert im Kopf einer Sportlerin in einer solchen Situation?
«Ich würde vielleicht einen Schritt vorher anfangen, so etwas kommt ja nicht aus dem Nichts. Vielleicht hat sie nach der ersten Rennhälfte schon gemerkt, dass sie sich nicht gut oder anders als sonst fühlt. Ein Sportler kennt sich ja sehr gut und merkt, ob er Energie hat und ob der Körper bereit ist.»

Wäre Durchbeissen keine Option gewesen?
«Es kann gut sein, dass sie von Anfang an gemerkt hat – also das müsste ich sie fragen, das weiss ich ja nicht –, dass sie nicht so viel Energie wie gewöhnlich hat und dass sie sich anders fühlt. In der Regel versucht man dann weiterzumachen, weil das Gefühl ja manchmal wieder weggeht. Wahrscheinlich hat sie gestern gemerkt, dass es in diesem Fall nicht weggeht. Vielleicht hat es auch mit der Vorgeschichte zu tun: Wenn sie in der Saison bereits viel geleistet hat, dann kommt der Körper vielleicht irgendwann nicht mehr mit, wenn sie sich nicht genügend erholen konnte. Und dann hat sie wohl entschieden, dass es keinen Sinn macht, und hat aufgehört.»

Aber wenn sie schon am Anfang gemerkt hat, dass sie keinen guten Tag hat, hatte sie dann vielleicht trotzdem noch die Hoffnung, dass es schon irgendwie geht? Oder wieso geht man dann überhaupt ans Rennen?
«Da müsste man auf einer Skala differenzieren, wie stark das Gefühl ist, es fühlt sich ja nie genau gleich an. Der Körper gewöhnt sich auch an solche Situationen, gerade bei Ausdauersportlern, die in einen Rhythmus kommen müssen. Man muss dem Körper also auch einen Moment Zeit geben. «Es geht mir nicht so gut» ist für einen Sportler in der Regel kein Grund, um einen Wettkampf abzusagen, ausser wenn es unmöglich ist, also wenn man zum Beispiel Fieber hat oder die Schmerzen schlichtweg zu stark sind.
Die Stärke eines Sportlers besteht auch darin, sich einzugestehen, wenn es mal nicht geht. Oft schadet ein Durchbeissen mehr, als dass es hilft, weil die Regenerationszeit nachher viel länger dauert. Und das nimmt niemand in Kauf, wenn man nicht muss, wenn es nicht um den Olympiasieg oder so geht. Aber auch dann nicht immer. Ich glaube, Reusser hat als Ärztin einen anderen Zugang zum Körper und weiss, dass sie ihn braucht und gut zu ihm schauen muss. Es ist eigentlich eine Stärke, wenn man das kann.»

Wie geht man als Sportlerin oder Sportler damit um, wenn man die Erwartungen – seien es die eigenen oder diejenigen von aussen – nicht erfüllen kann? Das ist ja auch eine Enttäuschung.
«Ich würde zuerst mit dem Sportler sprechen wollen. Wenn es jemand ist, der reif ist und schon viel Erfahrung hat, muss es nicht immer eine Enttäuschung sein, sondern manchmal ist es einfach eine vernünftige Entscheidung, weil Weitermachen in diesem Moment keinen Sinn macht. Es ist emotional nicht immer eine Tragödie. Es braucht Gespräche mit dem Athleten, man muss fragen, weshalb es nicht geht, und dann muss man schauen, was die nächsten Schritte sind. Natürlich wurmt einen das in diesem Moment, aber es wurmt einen auch, wenn man zum Beispiel einen Flug verpasst, aber das heisst nicht, dass deshalb gleich die Welt zusammenbricht.»

Wie sehr hängt der Umgang mit solchen Situationen von der Reife eines Athleten oder einer Athletin zusammen?
«Das Selbstvertrauen, das ein Sportler hat, steigt mit den Siegen, mit den positiven Erfahrungen und auch mit dem Alter. Das haben jüngere Athleten vielleicht noch nicht. Deshalb muss ein guter Sportpsychologe mit Sportlern auch solche Situationen anschauen: Was passiert, wenn man merkt, dass es nicht geht? Was wir auch nicht wissen: Vielleicht liegt bei Marlen Reusser auch eine kleine Verletzung am Ursprung und das Risiko wäre zu gross gewesen, dass es sich noch verschlimmert. Das wissen wir ja alles nicht. Nicht alles, was von aussen so aussieht, muss dann auch in einer Krise enden.»

Sportlerinnen und Sportler stehen oftmals unter einem enormen Druck und müssen konstant «liefern». Dass man da ab und zu eine Pause braucht, scheint logisch. Trotzdem nehmen sich Athletinnen und Athleten selten eine Auszeit. Wie schafft man es als Spitzensportlerin oder Spitzensportler, fokussiert und motiviert zu bleiben?
«Da helfen die mentale und sportpsychologische Arbeit und mentale Strategien, um sich vor dem Start in einen optimalen Zustand zu bringen. Ein grosses Ziel der Sportpsychologie ist es, dass der Start ins Rennen optimal gelingt. Während des Rennens gibt es auch Strategien. Man kann sich für bestimmte Situationen beispielsweise schon Handlungsmöglichkeiten zurechtlegen; Strategien, die man von Anfang an durchzieht, um das optimale Ergebnis zu erzielen. Und dann gibt es noch etwas, das sehr wichtig ist.»

Nämlich?
«Was man oft vergisst: Es geht nicht immer nur um das Performen, sondern auch darum, was zwischen den Wettkämpfen passiert. Das ist eigentlich das Zentrale, damit man wieder leisten kann. Die Erholungsphase muss gut geplant werden, muss genug lang sein, muss richtig umgesetzt werden. Die Wettkämpfe müssen so angesetzt werden, dass man sich dazwischen gut erholen kann. Dieses Erholungs- und Belastungsmanagement ist extrem wichtig, um langfristig Leistung erbringen zu können. Roger Federer hat das zum Beispiel gut gemacht. Er hat oft den Davis Cup abgesagt, was für das Schweizer Team und die Schweizer Fans schade war. Er hat gesagt, dass er sich erholen muss zwischen grossen Turnieren, die ihm sehr wichtig sind. Man kann nicht alles machen.»

Der Diskurs über die psychische Gesundheit scheint sich zu verändern, es wird offener darüber gesprochen. Ist eine solche Entwicklung Ihrer Meinung nach auch im Sport erkennbar?
«Ja, momentan passiert im Sport in dieser Hinsicht viel. Aufwind erhielt dieses Thema durch die Magglingen-Protokolle im Kinder- und Jugendleistungssport, aber auch durch all die zurückgetretenen Sportler, die jetzt über Depressionen sprechen. Ich finde es gut, dass der Mythos, dass Sportler Supermenschen sind, dadurch verloren geht. Ein Sportler ist einfach ein Mensch, der seine Arbeit gut macht und das ist körperliche Arbeit und nichts anderes. Sportler haben die gleichen Probleme wie alle anderen Menschen auch. Es passiert hier ein Umdenken in eine gute Richtung.»

Wie bleibt man als Sportlerin oder Sportler «hungrig», wenn man eigentlich schon alles erreicht hat? Oder im Gegenteil, wenn der Erfolg trotz unermüdlichem Training ausbleibt?
«Wenn man immer trainiert und der Erfolg ausbleibt, hat man immer die Motivation, die Ziele doch noch zu erreichen. Motivation braucht immer ein Ziel und einen Sinn: Weshalb mache ich das Ganze? Und dieses Ziel ist nicht immer eine Medaille, dieses Ziel ist sehr individuell. Und wenn man schon alles gewonnen hat, kann man wieder Federer als Beispiel nehmen: Man kann sich neue Rekorde vornehmen. Es geht aber nicht immer ums Gewinnen, es geht auch um die intrinsische Motivation, also innerlich Freude daran zu haben, sich selbst immer wieder zu zeigen, dass man gut ist in dem, was man macht. Aber es ist nicht einfach. Wenn man schon alles gewonnen hat, ist es schwierig, dies zu wiederholen. Der Druck steigt immens. Jemand, der noch nie gewonnen hat, kann locker-flockig an den Wettkampf, wer schon vieles gewonnen hat, weiss, dass er wieder gewinnen muss. Da braucht es viel mentale Arbeit und mentale Stärke.»

Oftmals kommt es vor, dass Athletinnen und Athleten nach einem grossen Erfolg in ein Loch fallen. Weshalb passiert das?
«Es gibt das sogenannte Olympia-Loch. Bei Olympiasiegern besteht die Gefahr, dass sie in ein Loch fallen, weil sie vier Jahre lang den ganzen Kopf auf dieses Ereignis ausgerichtet und alles für ihr Ziel getan haben. Und dann ist es vorbei. Dann ist ein Moment lang eine gewisse Sinnlosigkeit da: Ich muss nicht trainieren, ich muss mich nicht kontrollieren. Das ist ein Leben, das man dann gar nicht mehr kennt. Es gibt kein Ziel mehr. Es kommt ja dann aber schon wieder ein nächstes Ziel und es ist auch gut, wenn der Körper mal loslässt, das braucht er nämlich.»

Marlen Reusser Interview

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