Der norwegische Skirennfahrer Lucas Braathen hat beim Weltcup-Slalom von Wengen einen berauschenden Sieg gefeiert. Dank einem furiosen zweiten Lauf fuhr er von Platz 29 zuoberst aufs Podest. Schon eine Woche zuvor hatte er für Schlagzeilen gesorgt, als er vor dem Zielhang des Riesenslaloms in Adelboden seinen guten Lauf ganz bewusst beendete – vorerst ohne ersichtlichen Grund. Aber Braathen war im Jahr zuvor auf der anspruchsvollen Chuenisbärgli-Piste schwer gestürzt und dabei hart auf den Kopf aufgeprallt. Er hatte sich zudem eine schwere Knieverletzung zugezogen und viel monatelang aus. Braaten hatte die Bilder des Sturzes noch nicht verarbeitet.
Von Cristina Baldasarre, Sportpsychologin mind2win
Lucas Braathen selbst erklärte den Entscheid seines gewählten Rennabbruchs damit, dass er schon am Tag zuvor viele Zweifel und Unsicherheiten spürte und in der Nacht kaum schlafen konnte (Foto aus der Live-Übertragung von SRF). Während dem Rennen wären ihm diese negativen Gedanken alle wieder heraufgekommen – so auch die Bilder vom letztjährigen Unfall.
Aus psychologischer Sicht hat er genau die richtige Entscheidung getroffen. Denn Ängste haben in dem Zusammenhang den protektiven Charakter einer Warnlampe, eben «Achtung, Gefahr!» Der Körper schickt dem Kopf ein Signal. Braathen ist seinem Gefühl und seinen Gedanken gefolgt. Damit hat er viel Stärke bewiesen und sich vor einem weiteren möglichen Sturz geschützt.
Offene Fragen
Die Frage, welche wir uns aus der Perspektive der Sportpsychologie und auch der Psychotherapie dazu stellen müssen , sind:
– Wie konnte es soweit kommen, warum war der Athlet mental nicht bereit?
– Was ist in der gesamten Rehabilitations- und Aufbauphase geschehen, dass eine solche Situation entstehen konnte?
Zur Beantwortung braucht es einen kurzen Exkurs in die Theorie der Entstehung von traumatischen Erlebnissen. Welche Situationen für welchen Menschen zu einem Trauma werden, das ist sehr individuell. Die deutsche Traumastiftung definiert ein Trauma wie folgt:
«Ein Trauma (griech.: Wunde) ist ein belastendes Ereignis oder eine Situation, die von der betreffenden Person nicht bewältigt und verarbeitet werden kann. Es ist oft Resultat von Gewalteinwirkung – sowohl physischer wie psychischer Natur. Bildhaft lässt es sich als eine „seelische Wunde“ verstehen. So wie eine körperliche Verletzung Zeit braucht, um zu verheilen, ist auch ein Trauma eine Verletzung der Seele, die ebenfalls Zeit braucht zum Verheilen.»
Trauma-Symptome
Die Symptome eines Traumas sind mannigfaltig und unterschiedlich ausgeprägt, aber nicht immer für Aussenstehende augenscheinlich und ersichtlich. Traumatisierte Menschen haben zum Beispiel Flashbacks oder Alpträume. Oft leiden sie unter erhöhter Aufregung, Nervosität, Schlaflosigkeit oder Schreckhaftigkeit. Zudem können sie sehr reizbar und ungeduldig sein und oft schlechte Laune haben. Wir beobachten auch Vermeidungsreaktionen, verringerte Emotionalität oder Rückzugstendenzen. Diese Menschen zeigen häufig auch Scham- und Schuldgefühle und ihr Selbstwert ist in der Regel vermindert.
Aber zurück zu Braathens Situation: Sein letztjähriger Sturz war ein traumatisches Ereignis. Seinen Aussagen nach verspürte er typische Symptome wie grosse Nervosität, war sehr unsicher und die Bilder (Erinnerungen) des Unfalls waren noch präsent. Schlafprobleme kommen auch dazu. Das heisst, er spürt die Situation heute noch immer körperlich und zeigt deutliche Stresssymptome.
Die Rolle des Körpergedächtnisses
Das eigentliche Ereignis (hier der letztjährige Sturz von Braathen) ist zwar Vergangenheit, doch der Körper speichert jede Erfahrung im Körpergedächtnis. Dabei friert unser Nervensystem buchstäblich ein und der durch das traumatische Erlebnis erhöhte Spannungszustand (arousal) bleibt bestehen. Menschen, denen das passiert, tragen keine Schuld und bleiben aber beim Erlebten stecken.
Die Heilung eines Traumas braucht darum spezielles psychotherapeutisches Fachwissen und Erfahrung in der Behandlung solcher Zustände. In der heutigen Traumaforschung gibt es die klare Erkenntnis: Ein Trauma wird im Körper, im Nervensystem gespeichert. Der Prozess der Aufarbeitung ist somit kein primär kognitiver, sondern vor allem ein körperlicher. Darüber zu sprechen bringt somit erwiesenermassen nicht den gewünschten Erfolg.
Um ein Trauma und die in uns gespeicherten körperlichen Spannungen zu lösen, brauchen wir den intensiven Kontakt zu unserem Körper mit seinen Körperempfindungen und zu unseren Gefühlen. Nach einer intensiven körperpsychotherapeutischen Behandlung durch einen Psychotherapeuten, gehört es dann zur Aufgabe des Sportpsychologen, mit seinem Wissen den Athleten mental wieder auf das Training und die Wettkämpfe vorzubereiten. Die Schritte return to practice und return to compete lehnen sich dabei an die Rehabilitationsphasen nach physischen Verletzungen an. Als zentrales Mittel dazu dient die Technik des Visualisierens.
Kritische Frage
Erlauben Sie mir die kritische Frage danach, in welcher Weise Braathen von seinen Trainern und dem gesamten Umfeld auf diese neue Streckenlegung vorbereitet wurde? Hier scheint mir noch einiges an Potential brach zu liegen.
Der innere Film muss in der mentalen Vorbereitung minutiös auf die neue Strecke angepasst werden. Diesbezüglich spielt das Feedback der Trainer, sprich ihre Aussenperspektive für das Fine Tuning vor Ort bei der Streckenbesichtigung und dem Training sowie Videoanalysen zentrale Rollen. Wichtig zu wissen: Das mentale Umlernen erfordert mehr Zeit und Aufwand, weil Altes gelöscht und durch neue kinästhetische Bilder ersetzt werden muss.
Dass Brathen eine Woche später an einem ganz anderen Ort, an einem anderen Berg, in einer anderen Umgebung trotz seinem Chuenisbergli-Trauma derart erfolgreich sein konnte, ist auf gewisse Weise erklärt – und dennoch ist das eine verrückte Geschichte.
Quellen:
https://www.landbote.ch/ein-norweger-irritiert-mit-aufgabe-und-erinnert-an-gut-behrami-393499669610